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Über Menschen
 

 

HAMBURG

Die Sehnsucht nach dem Meer im Garten eines 85-Jährigen 


Axel Tiedemann

Er ist krank, aber gibt nicht auf: Neben seiner Tablettenbox liegt die neu gekaufte Bohrmaschine. Der 85-jährige Walter Meier baut ein Schiff in seinem Garten. Mithilfe seines Pflegedienstes.

Eine Tablettenbox steht auf der Anrichte: Montag, Dienstag, Mittwoch... für jeden Tag der Woche ein eigenes Fach. Daneben ein Beutel mit Einwegspritzen, weitere weiße Medikamentenschachteln. Unten auf dem Fußboden blinkt die rote Lampe einer Akku-Aufladestation – für die neue Bohrmaschine, die sich Walter Meier vor einigen Tagen gekauft hat.

Der 85-Jährige hat drei Schlaganfälle erlitten, war zuletzt lange im Krankenhaus. Täglich kommt für wenige Minuten ein Pflegedienst vorbei. Er schaut, ob Herr Meier die richtigen Medikamente nimmt, hilft ihm beim Anlegen der Kompressionsstrümpfe. Bücken, gehen, das fällt ihm jetzt schwer. Sein Leben beschränkte sich zuletzt auf die kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in Rothenburgsort, wo er mit seiner Frau zwischen den wuchtigen, antiken Möbeln lebt, die einmal im eigenen Haus standen.

Doch vor einigen Wochen, als wenige Kilometer weiter auf dem Hamburger Messegelände Yacht-Neuheiten ausgestellt wurden, hatte er plötzlich eine Idee. Seitdem baut Walter Meier auf einer Rasenfläche zwischen zwei Wohnblöcken ein Boot. Aus groben Holzplanken und mit leichtem Werkzeug. Stück für Stück und bestaunt von Nachbarn, die den großen weißhaarigen Mann dort täglich sehen, wie er mit langsamen Bewegungen an seinem Rohbau werkelt.

 

Herr Meier war der jüngste Schiffsführer auf dem Rhein

„Es ging aber nicht anders, der Zug zum Wasser ist einfach noch groß“, sagt Meier und stemmt sich aus dem Wohnzimmersessel hoch. Aus einer Kommode holt er ein dickes Album und breitet sein früheres Leben aus. Als junger Mann in schneidiger Kapitänsuniform ist er auf Fotos zu sehen. Er war einmal der jüngste Schiffsführer auf dem Rhein, kommandierte große Passagierschiffe. Optimistisch, entspannt blickt der junge Schiffer in die Zukunft.

 
 
 

1929 war der Sohn eines Nordseefischers in Oldenburg geboren worden und ging selbst früh zur See. Er fuhr auf Fischkuttern und Seedampfschleppern mitten im Krieg. Nach der Kapitulation 1945 suchte er einen neuen Job, ging in die Rhein-Schifffahrt und machte seine Patente. Auf den Fotos in seinem Album ist ein weißer Dampfer zu sehen, die MS „Europa“. Er fuhr zwischen Bonn und Basel, oder bis nach Amsterdam. Oft waren auch ausländische Delegationen und Regierungsmitglieder an Bord des Bonner Schiffs. „Ich habe damals wohl jedem Minister schon die Hand geschüttelt“, erzählt Meier.

Seine Frau wird schwer krank

Dann wollte er sich selbstständig machen. In einem Zeugnis, das er noch hat, findet ein Arbeitgeber höchstes Lob. „Der beste und tüchtigste Schiffsführer auf dem Rhein“, steht dort mit der Maschine auf vergilbtem Papier geschrieben. Und zur Kreditwürdigkeit: „Wenn es einer schafft, dann Meier.“

Er kaufte sich zunächst ein kleines französisches Flussschiff, eine „Penische“. Die Klöcknerwerke suchten damals Binnenschiffer, die Eisen nach Frankreich brachten. Bis Lyon gingen die Fahrten auf den Kanälen und Flüssen. Später kaufte sich Meier ein 1000-Tonnen-Schiff. Voller Stolz ist er auf den Fotos zu sehen, mit dem langen Frachter. Er hatte inzwischen geheiratet, vier Kinder gezeugt und besaß ein schönes Haus in Bremen. Die großen Reedereien und Konzerne überließen es gerne den selbstständigen Schiffern, den Partikulierern, die wieder aufblühende Binnenschifffahrt zu übernehmen. Selbstausbeutung sei nicht verboten, sagte seinerzeit ein Manager. Aber Meier und seine Kollegen hatten ein auskömmliches Einkommen. „Man konnte auch wieder in die Schiffe investieren“, sagt er.

Als er um die 50 Jahre alt ist, wird seine Frau schwer krank. Mehrere Tumore werden diagnostiziert.

Meier entschließt sich, die Pflege selbst zu übernehmen, nimmt seine Frau mit an Bord, die Kinder bleiben in der Zeit bei der Tante. Fotos im Album zeigen, wie seine Frau auf der flachen Ladeluke auf einer Liege liegt, dick in Decken gehüllt. Immer wieder aber zwingen Krankenhausaufenthalte und Arztbesuche zum Stopp. Zeit ohne Einnahmen, Rücklagen kann er kaum bilden. Eine Pflegeversicherung gibt es noch nicht. 16 Jahre pflegt er seine Frau und fährt gleichzeitig weiter. Das Haus in Bremen ließ sich aber so nicht halten.

Als seine Frau starb, fuhr er weiter nach Amsterdam, nach Belgien, Frankreich in den Osten. Er heiratete wieder, und auch seine zweite Frau begleitete den Schiffer. Dann aber plante Anfang der 1990er-Jahre die CDU/FDP-Regierung ihr „Tarifaufhebungsgesetz“ für die Binnenschifffahrt. „Auf Druck der Großindustrie“, sagt Meier, und man hört die Verbitterung.

Er zog nach Hamburg und gab nicht auf

Tatsächlich warnten viele, dass das Ende eines festen Tarifsystems Existenzen vernichten würde im Konkurrenzkampf zwischen Groß und Klein. Manche CDU-Abgeordnete wankten, die FDP bestand aber auf der Liberalisierung des Marktes. Und der agile junge CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann sprach von einer großen „Chance“, die sich Leuten wie Meier jetzt biete. Tatsächlich brachen die Frachtraten dramatisch ein. Sein Schiff, das laut Gutachten zuvor noch gut 400.000 Euro Verkaufswert hatte, konnte er nur noch abwracken lassen. Eigentlich sollte der Verkauf als Alterssicherung dienen. Das war der Plan, der nun nicht mehr funktionierte: Etwas über 600 Euro Rente bekam Meier zuletzt.

Er zog nach Hamburg und gab nicht auf. Er war jetzt zwar im Rentenalter, „doch auf dem Arsch sitzen, das wollte ich nicht.“ Er wurde Parkwächter beim Hansa-Theater. Als ein neues Steuergesetz solche Jobs zu Fall brachte, heuerte er bei einem Sicherheitsdienst an, wo er noch mit über 80 Jahren arbeitete. Das Wasser ließ ihn aber nicht los. Er hatte ein altes Rettungsboot zum Holzsegler umgebaut, ein schönes Schiff mit traditionellen Linien. Ein Fluchtpunkt für ihn, um wie früher auf dem Wasser zu sein. Auch davon gibt es Fotos in dem Album, glücklich lächelt Meier darauf, ein alter Mann schon, aber noch voller Tatkraft.

Meier baut sein Boot im Garten

Doch dann kam die Krankheit, die Zeit in den Krankenhäusern. Meier ließ sich überreden, das Boot zu verschenken. Was soll ein alter kranker Mann mit schmaler Rente damit auch? Nur den schweren Yamaha-Außenbordmotor behielt er. Eine Erinnerung, die ihn schließlich auf die Idee brachte, dem Schicksal doch noch einmal selbst eine Wendung zu geben. Sein Leben wieder selbst zu manövrieren. Wenn auch nur ein wenig.

Er besprach mit Manfred Schikora die Idee. Der Sozialpädagoge und gelernte Krankenpfleger ist Mitinhaber des Pflegedienstes, der Meier jetzt betreut. Nach erstem Zögern bekräftigte er seinen Patienten. „Man merkte, wie ihn das aufbaut, er will nicht aufgeben“, sagt Schikora, der mittlerweile den alten Mann in seiner Freizeit unterstützt, weil ihm das Projekt so imponiert. „Am Freitag hatten wir darüber gesprochen, am Montag hatte er schon die ersten Bretter gekauft.“ Er hilft beim Schrauben, holt Holz oder Farbe aus dem Baumarkt, steckt selbst Geld in das Projekt.

Immer wieder kommen Nachbarn vorbei

Denn viel hat Meier nicht, muss mit einfachem Werkzeug und billigem Holz auskommen. Grob wirkt daher die Konstruktion, dick hat Meier gerade den unteren Bereich mit Bitumenfarbe abgedichtet. Mit Spanngurten hat er die schweren Bretter rund gebogen. Mal steigt er sehr mühsam an einer Palette hoch in sein Boot, sodass man Angst hat, er könnte gleich fallen. Doch Meier fällt nicht. Und wenn er die Taue der Regenplane mit den großen Händen festzurrt, merkt man die Kraft, die er kurz noch aufbringen kann.

Immer wieder kommen Nachbarn vorbei, freuen sich sichtlich an dem ungewöhnlichen Holzbau, der dort zwischen den Hauszeilen wirkt wie eine Arche in der Wüste. Hausmeister schauten erst skeptisch, dann freundlich. Bis jetzt jedenfalls, eine Genehmigung hat Meier nie geholt, sondern einfach losgebaut. Ein Nachbar versprach, wenn alles fertig sei, das etwa sechs Meter lange Boot zur Elbe zu bringen. Wann das sein wird? Meier weiß es nicht. Aber vielleicht kommt es auf den Termin auch gar nicht an.

 

 

 

Ein Pastor, der Spaß macht

 

Axel Tiedemann

Mit „Kirchen-Kabarett“ hat der Buxtehuder viel Erfolg. Doch nun tritt er kürzer. Wieso – das erzählt er im Abendblatt.

 

Buxtehude.  Matthias Schlicht ist nicht nur Theologe, sondern auch Genussmensch – klar. Als Treffpunkt zum Interview schlägt er ein Weinhaus in der Buxtehuder Altstadt vor. Das passt, irgendwie: Als „Nichtexperte für edle Tropfen“, bezeichnete er sich schon einmal selbstironisch, seine Auswahl für einen geradlinigen Grauburgunder lässt mehr erahnen. Man erinnert sich dann gern an eine seiner Kurzgeschichten aus dem Alltag eines Pastors: Zu einer Weinverkostung ist er da eingeladen, doch der sehr vornehme Gastgeber möchte zunächst über die Farbe des Weines philosophieren. „Naja, gesunder Mittelstrahlurin würde ich sagen“, entfuhr es dem damals noch jungen Theologen.

Ganz im Sinne Luthers, über den er promoviert hat, liebt Schlicht eben das kräftige, deutliche Wort. Aber auch ein Glas Wein, das gemeinsame Essen mit Freunden, das Kochen in der eigenen Küche. Und er mag die Bühne: Schlicht ist zunächst Pastor in der St.-Paulus-Gemeinde in Buxtehude, landauf, landab tingelt er aber auch seit Jahren schon als Kabarett-Pastor durch die Republik, wurde in Talkshows eingeladen, schrieb humorvolle Bücher. Kirche und Kabarett – das ist sozusagen sein Alleinstellungsmerkmal, die Predigt wird da auch einmal zum Kabarett, das Kabarett zur Predigt. Aber immer mit einem Augenzwinkern erzählt.

„Ich hole die Leute in ihrem Alltag ab “, sagt Schlicht, dem an seinen Sonntagspredigten gut 220 Menschen zuhören. Vielleicht ist es gerade diese Verbindung aus Humor und Religion, aus Seelentrost und Alltagsgeschichten, die vielen heute eher den Zugang zur Kirche schafft. „Ich und mein Kollege sind zwar Pastoren, aber nie pastoral“, sagt Schlicht, der eher eine philosophische Sicht auf die Dinge pflegt. Philosophie, Religion und Naturwissenschaften – das seien doch Schubladen des Denkens, die sich irgendwann im Hintergrund wieder treffen, sagt er. 

 

Doch diese Kombination aus geistvollem Witz und witzig Geistlichem zehrt auch, wenn man älter wird, sagt der 1961 geborene Theologe. Der Blutdruck war zuletzt höher als er sollte. Nachts habe er nicht schlafen können, plante Termine, organisierte den Gemeindealltag. „Man glaubt gar nicht, in wieviel Gremien man als Pastor sitzen muss“, sagt Schlicht. Dann aber erlebte er dreimal hintereinander, wie er Gemeindeglieder beerdigen musste, die jünger als er selbst waren. „Das geht dir nahe, jeder denkt doch: die sterben – das sind die anderen“, sagt Schlicht, der mit einer Lehrerin verheiratet und Vater von drei Kindern ist.

100-Prozent-Pastor und 100-Prozent-Kabarett, beides zusammen, das geht nicht mehr, beschloss er also jetzt. In der Paulus-Gemeinde hört er nun zum März auf und übernimmt in Stade eine 50-Prozent-Stelle als Vertretungspastor und springt ein, wenn ein Kollege ausfällt. Und auch die Kabarett-Tourneen sollen eingedampft werden, sagt Schlicht, dem das durchaus schwer fallen dürfte: Denn der Auftritt vor Publikum ist für ihn eindeutig die längere Erfahrung, während der Weg zum Theologen zunächst holprig war. 

Seine ersten Erfahrungen mit Pastoren seien eben „ziemlich blöde“ gewesen, erzählt Schlicht, der als einziges Kind eines Kranführers und einer Hausfrau in Jesteburg aufgewachsen ist. Mutter und Oma pflegten zwar eine „Grundfrömmigkeit“, aber nie im Sinne der Amtskirche. Und beim seltenen Kirchgang zu Weihnachten hätte sie sich von einem strengen Pastoren anhören müssen, wie verwerflich diese seltenen Kirchgänge seien. „Meiner Mutter liefen Tränen über die Wangen“, erinnert er. Nein, mit so einer Kirche wollte Schlicht nichts zu tun haben. Erst später, über einen Buchholzer Jugendpastor wurde er mit der Kirche versöhnt, nahm an Jugendfreizeiten teil und war fasziniert, wie man mit diesem Theologen über alles reden konnte. 

Schlicht engagierte sich mehr und mehr, pflegte aber auch weiter sein schauspielerisches Talent am Schülertheater des Gymnasiums Buchholz. Und dann, im Theologie-Studium in Hamburg, begann so die zweite Karriere als Kirchen-Kabarettist. Vor studentischem Publikum nahm er Professoren aufs Korn. Immer häufiger wurde der angehende Pastor zu Auftritten gebucht, auch später als er junger Pastor in Bardowick geworden war.

Schließlich wurde die damalige Bischöfin Margot Käßmann auf diesen wortgewandten Pastoren aufmerksam. Er sei der ideale Kandidat, um junge Pastoren als Studiendirektor im Kloster Loccum auszubilden, befand sie. Ein gewagter Schritt, denn Schlicht galt mit seiner scharfen Zunge nicht gerade als sehr konformer Theologe. „Wir haben uns für das erste Gespräch in einem Schwulencafé getroffen, damit uns niemand von der Amtskirche sieht“, erinnert sich Schlicht, der später diesen Hang zu ungewöhnlichen Orten für seine Predigten noch ausbaute, nachdem er 2011 seine Stelle in Buxtehude angetreten hatten. Beim Zahnarzt, beim Frisör und natürlich im Wein-Bistro hielt er schon seine Predigten.

Immer wieder greift er dabei auf die eigene Geschichte zurück. Etwa auf die Kinder- und Jugenderinnerungen der 60er- und 70er-Jahre: „Erinnert sich jemand noch an die alten Drehscheiben-Telefone“, ruft er dann in die Gemeinde, die sich zum Konfirmationsgottesdienst versammelt hat. Schon hat er die älteren Zuhören in seinem Bann. Dann schlägt er den Bogen zur heutigen Handygeneration und nimmt das Telefon als Vergleich, wie man Verbindungen aufrecht erhält.

Wenn man schließlich aber niemanden erreicht, sei da eben noch ein Gott. Und dann, in die nachdenkliche Stille hinein, erzählt er wieder von den ersten Telefon-Erinnerungen. Seine Oma habe zunächst gemeint, ein Telefon brauchen nur der Bürgermeister, der Polizist und der Pastor im Dorf. „Für den Bürgermeister war ich zu dumm, für den Polizisten zu klein...“, ruft Schlicht dann. Und blickt wieder in vergnügte Gesichter. Ein Pastor der Spaß macht. In jeder Beziehung.

 

 

Heinz Oestmann: Der alte Fischer mag nicht mehr

Wie kein Zweiter stand Heinz Oestmann für den Widerstand gegen die Wasserverschmutzung der Elbe. Jetzt will er seinen Kutter verkaufen.

 

Finkenwerder. Ein leichtes Schneegrieseln setzt ein, als Heinz Oestmann das Tor zum Anleger im Finkenwerder Rüschkanal aufschließt. Jetzt im Februar ist der sonst größtenteils mit Yachten belegte Hafen leer, eisiger Nordwind wirbelt die nassen Flocken über einsame Stege. Oestmann reckt sich kurz. Eine alte Verletzung macht dem 63-Jährigen wieder zu schaffen. Als junger Fischer hatte ihn eine herausgerauschte Ankertrosse auf einen Poller gequetscht und den Magen innerlich förmlich aufgerissen. Neun Operationen musste er über sich ergehen lassen - aber erst nachdem er zunächst einige Tage noch auf See gefischt hatte. "Da konnte ich noch vieles wegstecken", sagt er und grient und klopft dann an die Bordwand seines alten Kutters. Rost blättert an der Seite, wo das schwere Ankergeschirr immer gegengeschlagen war. Deck und Steuerhaus der roten "Nordstern" sind mit einer feinen Schneeschicht bedeckt. "Das Leichentuch", sagt Oestmann und lacht kehlig und laut. Sonst war er im Winter immer auf Stintfang, in diesem Jahr bleibt der Kutter am Steg. Oestmann, Hamburgs wohl legendärster Fischer, hat aufgehört, will nicht mehr hinaus. "Die ,Nordstern' wird jetzt verkauft", sagt er.

Fangquoten, bürokratische Auflagen für kleine Kutterbesatzungen und nun noch die Folgen der Elbvertiefung - das lohne sich nicht mehr, sagt Oestmann. Mit seinem Sohn Thees ist er sonst im Sommer weit rausgefahren in die Nordsee zum Fischen, um den Fang am Wochenende direkt vom Kutter am Fischmarkt zu verkaufen. Im Winter ging's zum Stintfang auf die Elbe. Sohn Thees sollte die Familientradition fortführen, jetzt fährt er eine Hadag-Fähre. "Das ist besser so, hätte ich auch gemacht", sagt Oestmann.

Auch er konnte schon nicht mehr in Ruhe wie die Vorfahren raus zum Fischfang: Als 20-Jähriger hatte Oestmann das 1950 gebaute, knapp 15 Meter lange Schiff übernommen, als sein Vater früh an Krebs gestorben war. Eigentlich wollte Oestmann damit die seit 1740 bestehende Familientradition weiterführen. Doch es wurde mehr. Mit der "Nordstern" kämpfte er gegen Dünnsäure-Verklappung in der Nordsee, gegen Umweltvergiftung und gegen die Hafenerweiterung in seinem Dorf Altenwerder. Oestmann ist nicht nur einer der letzten Hamburger Fischer, er ist auch der wohl streitbarste. Er prügelte sich mit Polizisten, blockierte mit seinem Kutter die Elbe und auch die Kattwyk-Hubbrücke, indem er direkt darunter liegen blieb. Für die Grünen saß er sogar kurz in der Bürgerschaft. Der Rebell von Altenwerder, so schrieben Zeitungen noch in den 1990er-Jahren über den kräftigen, bärtigen Mann, dessen schwarzer Lockenkopf jetzt grau und weiß geworden ist.

Nur wenige Hundert Meter vom "Nordstern"-Anleger wohnt Oestmann seit 14 Jahren in einem großen Haus, das er sich dort gebaut hat. Nebenan betreibt er sein eigenes Restaurant, das er selbst beliefert hatte. Heute bekommt er den Fisch von einem Kollegen, immer noch direkt vom Kutter. In der großen Küche schenkt Oestmann Kaffee ein. Über der Sitzecke hängen alte Fotos: von seinen Protestaktionen, von Altenwerder, von der "Nordstern", von Verwandten. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto sind sechs alte Männer in dunklem Anzug zu sehen. Eine Aufnahme von 1883. "Gebrüder Oestmann, Elbfischer" ist auf einem Haus zu lesen. Einer der sechs ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, die Brüder hatten ihn im Sarg fotografieren lassen und dann das Bild ins Gruppenfoto montiert, damit alle noch einmal zusammen abgelichtet werden konnten, erzählt Oestmann, dessen Vorfahren wohl auch schon eher robust waren und das harte Leben nahmen, wie es kam.

Und er selbst? Wehmut, dass es vorbei ist mit dem Fischerleben, Sehnsucht nach Altenwerder? "Kein Stück", grantelt Oestmann und nimmt einen großen Schluck. Nicht einmal geträumt habe er in den letzten Jahren von dem Dorf seiner Vorfahren. Und der ewige Protest, der habe sich auch gelohnt, sagt er. Noch nie hat er den Stint aus der Elbe so gesund gesehen wie heute. Die Fische in der Nordsee auch, das Wasser ist so sauber. "Das ist alles viel besser, selbst im Vergleich zu den Zeiten, als ich Schuljunge war", sagt er.

Wenn heute das Verklappen von Säure unglaublich erscheint, wenn in Umweltdingen ein Umdenken stattgefunden hat - dann ist das wohl tatsächlich nicht nur ein Verdienst großer Umweltverbände, sondern auch eine Folge der Aktionen des renitenten Hamburger Fischers: 1978 beobachtete Oestmann die Dünnsäureschiffe in der Nordsee bei Helgoland, klagte gegen 14 Genehmigungsanträge großer Konzerne. Spätestens als er für das ARD-Magazin "Monitor" Fische mit blumenkohlartigen Hautgeschwüren in die Kamera hielt, wurde er bundesweit bekannt. Der massige Fischer mit dem zornigen Blick legte sich immer wieder mit Behörden und Politikern an.

In Altenwerder gehörte er mit seiner Frau Renate und den vier Kindern Ende der 90er-Jahre zu den Letzten, die ausharrten. Selbst als der Strom abgestellt wurde und der Termin zum Aufspülen des künftigen Containerterminals kurz bevorstand. Lange schon waren die meisten Häuser abgerissen, 2500 Bewohner des Dorfes umgezogen. Seine Frau hing sehr an Altenwerder, sie bekam viel Druck ab, während er mit der "Nordstern" raus "nach See" fuhr, wie er sagt. Mit dem parteilosen Wirtschaftssenator Rittershaus einigte sich Oestmann daher. Lange gab es den Kampf mit den taktierenden Behörden, beide Männer kamen innerhalb weniger Minuten zueinander. Oestmann erhielt als Entschädigung Geld, zinsgünstige Darlehen und das Grundstück am Finkenwerder Rüschkanal, wo er den Fischerbetrieb weiterführen konnte. Für seine Frau baute er das Restaurant mit der großen Terrasse über dem Yachthafen. Das Ausharren hatte sich gelohnt, das Leben der Fischerfamilie hätte wieder in ruhigen Bahnen verlaufen können.

Eineinhalb Jahre nach dem Umzug starb seine Frau mit 48 an Krebs. "Ich wusste, dass sie krank war, die Sache mit dem Restaurant hat ihr aber vielleicht noch ein Jahr geschenkt", sagt er.

Heute sind Haus und Restaurant für ihn nur noch ein "Steinhaufen", dem er im Alter nicht mehr sein Leben widmen wolle. Auch das Restaurant will er daher jetzt verkaufen. Und dann, neue Pläne? Nö, sagt Oestmann. "Pläne mache ich nicht mehr, immer wenn ich etwas geplant habe, lief es schief", sagt er. Höhen und Tiefen habe es immer in seinem Leben gegeben. Aber mit seinen Gedanken ist er im Reinen, "jammert" auch Altenwerder und der Fischerei nicht nach. "Weil ich getan habe, was ich konnte." Nur dass seine Frau so früh gestorben ist - das, sagt Oestmann, war für ihn der größte Schlag. Das Schicksal kann auch zu Kämpfern gemein sein. Selbst, wenn sie eigentlich erfolgreich waren.

 

 

 

 

THEATER AM SCHULTERBLATT

Helga Bischoff - die letzte Flora-Tänzerin


Axel Tiedemann

Vor 125 Jahren wurde die Rote Flora als „Concerthaus“ gebaut. Axel Tiedemann traf Helga Bischoff, die dort nach dem Krieg die Blütezeit des Gebäudes als Operettenhaus erlebte.

Gleich drei große Foto-Alben hat Helga Bischoff auf den Tisch in ihrem Wohnzimmer gestellt. Sie bleibt lieber stehen und überlässt das Blättern den Besuchern auf dem Sofa. 87 Jahre alt ist sie jetzt, die Stimme klingt deutlich jünger. „Ja, das ist Johannes Heesters.“ Schick sei der gewesen, habe den Mädchen im Ensemble immer so einen Blick zugeworfen, sagt sie. „Und da!“, das war sie als junge Tänzerin. In der Aufführung „Frau Luna“. „Und hier, in der Operette ,Nächte in Shanghai‘.“

Helga Bischoff erzählt, lacht, witzelt, schmunzelt, deutet eine Tanzbewegung an. Die 40er- und 50er-Jahre im Flora-Theater am Schulterblatt – hier in der kleinen Wohnung in Hamm ist die Erinnerung noch immer lebendig. „Das war das beste Operettenhaus Deutschlands“, sagt sie. Eine Schande, was nun daraus geworden sei. Den aktuellen Streit um Neubaupläne für das von Linksautonomen besetzte Haus verfolgt sie genau.

Warum die Stadt den Besetzern das Gebäude überlässt und das „autonome Kulturzentrum“ mit einem Bebauungsplan in seiner heutigen Nutzungsart sichern will, das versteht sie nicht. Für Helga Bischoff, die aus Königsberg geflüchtete, an der Oper klassisch ausgebildete Tänzerin, ist die Flora noch immer das, was ein Investor, wie man heute sagen würde, vor nun 125 Jahren bauen ließ: das Concerthaus Flora – eines der bestbesuchten Operetten- und Varieté-Theater des Landes.

 

Die Ursprünge als Unterhaltungsstätte sind sogar noch älter: Im frühen 19. Jahrhundert war das Schulterblatt noch eine eher dünn besiedelte Landstraße, benannt nach einer Gaststätte, die ein Wal-Schulterblatt als Erkennungszeichen an der Tür hängen hatte. Der Gastronom H. F. P. Schmidt kaufte 1855 dort ein Areal, ließ eine Bühne und einen runden Holzpavillon bauen, einen Garten anlegen, Schaukeln und Tierkäfige aufstellen. Ein sogenannter Belustigungsgarten, wie sie in dieser Zeit in Europa nach dem Pariser Vorbild „Jardin-spectacle Tivoli“ vielfach entstanden, auch das heute noch existierende Tivoli in Kopenhagen. „Schmidt's Tivoli“ hieß auch der Ort am Schulterblatt, an der Grenze zwischen Altona und Hamburg. Lustspiele, Opern – so etwas wurde dort aufgeführt, zur Eröffnung sollen 4000 Besucher gekommen sein.

 
 
 

Vor etwa 125 Jahren dann übernahm Theodor Mutzenbecher mit einem Geschäftspartner das Areal. Mutzenbecher war so etwas wie der König von St. Pauli und betrieb Vergnügungsstätten. Der Holzbau wurde abgerissen, und Mutzenbecher ließ ein prächtiges Gebäude mit Anklängen an die Architektur der Renaissance bauen: Das „Gesellschafts- und Concerthaus Flora“, am 2. Juni 1889 wurde es eröffnet. In den Seitentürmen gab es ein „Wiener Café“, ein Billardzimmer und kleine Säle für private Feiern. Kern war, ganz ähnlich wie bei den aktuellen und umstrittenen Plänen, ein großer Konzertsaal. Abends leuchteten im großen Garten, dem heutigen Park, viele Hundert kleine Glaslämpchen in Form von Blütenkelchen – daher der Name „Flora“. Hier draußen ließ man Freiluftballons aufsteigen, Feuerwerke simulierten den Ausbruch des Ätna, es gab Musik und Tanz unter freiem Himmel.

Um 1900 bauten neue Inhaber zur Lippmannstraße hin ein spektakuläres Eisenfachwerk als Überdachung. Die Flora entwickelte sich zu einem der ersten und bekanntesten Varieté-Theater Deutschlands, zeitweise wurden auch Ringkämpfe veranstaltet. Der spätere Weltstar Zarah Leander hatte hier seine ersten Auftritte. Man amüsierte sich, mehr handfest als vornehm, trank Rum-Grog für vier Groschen und biss in Kassler Würstchen, das Paar für 35 Pfennige.

1936 gab es einen Umbau, die Eisenfachwerkkonstruktion verschwand. 1941 dann wurde im Garten der Hochbunker gebaut, der dort immer noch steht.

Schon bald nach dem Krieg blühte der Spielbetrieb wieder auf. Helga Bischoff war mit ihrer Mutter aus Königsberg geflohen, wo sie eigentlich nach der Ausbildung eine Tänzer-Karriere an der Oper angestrebt hatte. In Ostfriesland schloss sie sich einer Varieté-Truppe an und kam damit schließlich nach Hamburg, wo sich die Gruppe auflöste. Nur mit einem Koffer in der Hand strandete sie hier, schlenderte über die Mönckebergstraße und erstarrte, als sie ein Plakat der Flora entdeckte. Bühnenmeister und Tenor – beide kannte sie doch aus Königsberg. „Gräfin Mariza“ stand auf dem Programm. Sie fuhr mit der S-Bahn hin, klopfte schüchtern an – und war schnell engagiert. Die ersten Jahre blieb sie den ganzen Tag dort, tanzte und tanzte für zwölf Mark die Aufführung, statt Blumen gab es Äpfel, Butter oder Brot von begeisterten Zuschauern. „Wir waren auch auf Tournee in vielen Städten“, sagt sie. Im Sommer aber war Pause und sie arbeitslos, sie musste Trümmersteine klopfen, um Geld zu haben. In mehr als 30 Operetten und Tanzshows stand sie dort auf der Bühne. Sie erlebte Stars wie Heesters und Hans Albers, „ein eher ordinärer Mann, der Frauen auf den Po klopfte“, empört sie sich noch heute. 1952 war für sie Schluss, sie heiratete einen Kapitän und bekam ein Kind. Doch die Ehe hielt nicht, der Mann trank. Als alleinerziehende Mutter schlug sie sich weiter durch und arbeitete später lange in der Bibliothek der Musikhochschule, was ihr heute eine kleine Rente bringt.

Aber immer verfolgte sie mit, was mit ihrer Flora geschah. Erst wurde das Haus 1953 zum Kino umgebaut, dann zog 1964 das Haushaltswarengeschäft 1000 Töpfe ein. 1988 sollte es wieder zum Musikhaus umgebaut werden, doch die Musical-Pläne stießen in der linken Szene auf Widerstand. Zu viel Kommerz im Stadtteil, hieß es, das Gebäude wurde besetzt, die Politik im Hamburger Rathaus ließ es geschehen. „Die haben den Schwanz eingezogen vor den Chaoten“, sagt Helga Bischoff. Heute ist die alte Dame mit der jungen Stimme wohl eine der letzten lebenden Künstler, die dort auftraten. „Alle sind gestorben“, sagt sie leise. Oft „totgesoffen“ oder „totgeraucht“, schiebt sie vorwurfsvoll hinterher.

Die glanzvollen Zeiten, die vielen Verehrer, die Tourneen, das Tanzen, die Jugend – alles Geschichte. Einsam ist es um sie geworden, die Rente so klein, „dass man sich nicht einmal einen Friseur richtig leisten kann“, sagt sie und lacht doch. Und auch die Flora, so wie sie das Haus noch kannte, wird es wohl nie wieder geben. Geblieben sind nur Erinnerungen. Und viele Foto-Alben.

 

 

 

 

Jobcenter-Mitarbeiterin verweigert Strafen für Arbeitslose

Inge Hannemann weigert sich, Sanktionen gegen Arbeitslose auszusprechen. Sie hält das System für gescheitert und wurde zur Netz-Ikone.

 

Hamburg. In der offenen Küche dampft auf dem Tresen ein Kaffee, der Laptop ist aufgeklappt. Facebook- und Twitter-Meldungen ploppen im Wechsel auf. Wieder klingelt eines der beiden Telefone von Inge Hannemann, die sich hier in ihrer Wohnung an der Altonaer Jessenstraße eine Art Kampagnenbüro eingerichtet hat. "Berlin, aus dem Bundestag", sagt die sportliche, eher zierliche 44-Jährige, als sie kurz auf die Nummer blickt, die da aufblinkt. Seit einigen Tagen ist die Mitarbeiterin des Jobcenters Altona bei Arbeitslosen-Initiativen und Kritikern des deutschen Hartz-IV-Systems bundesweit zu einer Symbolfigur geworden - während sie sich mit ihrem Arbeitgeber, der Hamburger Sozialbehörde, heftigen Ärger eingehandelt hat. Hannemann weigert sich beharrlich, Hartz-IV-Empfänger mit den üblichen Sanktionen zu belegen. Also Geldzuweisungen zu kürzen, wenn ihre "Kunden", wie es im offiziellen Sprachgebrauch heißt, nicht zu Beratungsterminen erscheinen oder Jobs ablehnen.

"Das Kürzen ist menschenunwürdig, weil die Beträge schon so am Existenzminimum liegen", sagt sie. Doch es ist nicht nur ein stilles Aufbegehren, das sie mittlerweile in den Chefetagen von Behörden als hartnäckige Querulantin bekannt gemacht hat. Seit zwei Jahren schon schreibt sie einen Internet-Blog und informiert über Rechte und Hintergründe in Hartz-IV-Fragen. Vor genau einem Jahr wurde ihr Ton schärfer, sie gründete den Blog "altonabloggt" und übt darin schwere Kritik an der Arbeit von Jobcentern. Jenen Behörden, in denen als Teil der Hartz-IV-Reformen die Arbeit von Sozial- und Arbeitsämtern zusammengeführt wurden, um Langzeit-Erwerbslose zu Arbeitsstellen zu verhelfen. Mancher Jobcenter-Mitarbeiter würde ohne Bedenken sanktionieren, Chefs auf Sollzahlen dabei drängen, wie die steigenden Sanktionszahlen beweisen würden. Die Beratungszeit sei zu knapp, der Druck zu groß. "Und wir sollen die Menschen in prekäre Zeitarbeitsjobs oder sinnlose Maßnahmen vermitteln, um Zielzahlen zu erfüllen", sagt sie und nennt ein Hamburger Angebot, wo Hartz-IV-Bezieher Puzzles zusammensetzen müssen, um wieder ein strukturiertes Arbeitsleben zu erlernen, wie es in der Beschreibung des Anbieters heißt. "Daran wird nur verdient, bringt aber nichts und ist unwürdig", sagt Hannemann.

Hier geht es zum Blog von Inge Hannemann

Dass solche Kritik und Interna aus dem Innenleben der Jobcenter nicht im Verborgenen bleiben, sei ihr von Anfang an klar gewesen und mit ihrem Mann besprochen, sagt sie. Ein geplanter Eklat sozusagen. "Ich bin ein strategischer Mensch", sagt Hannemann. Dann steht sie dynamisch auf, holt einen neuen Kaffee. Man sieht den Bewegungen an, dass sie sich mit viel Sport fit hält. Sie ist Triathletin, läuft oft 20 Kilometer an der Elbe. "Um den Kopf freizukriegen." Der lange Atem - das zahlt sich offensichtlich auch in ihrem Kampf gegen das System Hartz IV aus: Inzwischen bekommt sie anonyme Hinweise von Kollegen und ihr helfen ehrenamtliche Unterstützer, sichten E-Mails, koordinieren Vortragstermine und recherchieren, ob nicht die rechte Szene oder Verschwörungstheoretiker zu Trittbrettfahrern ihrer beginnenden Popularität werden wollen. Hannemann selbst spricht mittlerweile von "wir", wenn sie von ihren Aktionen berichtet. Wie stark der Unterstützerkreis ist, erfuhr die Hamburger Sozialbehörde vor ein paar Tagen. In einem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt, hatte sie die Behörde zu einer Anhörung binnen zwei Tagen aufgefordert. Man wolle darüber sprechen, ob sie an den Inhalten ihres Blogs festhalten oder davon nicht doch lieber abrücken wolle, heißt es dort sinngemäß und mit bedrohlichem Unterton. Flugs gab es im Netz Aufrufe zu einer Kundgebung - und man nahm in der Behörde lieber wieder Abstand von der Anhörung, wie die Pressestelle bestätigt: "Es ist zutreffend, dass beabsichtigt war, Frau H. anzuhören, und dass dieser Termin wegen der angekündigten Kundgebung abgesagt wurde", so ein Sprecher. Im Übrigen wolle und dürfe die Behörde zu vertraulichen Personalvorgängen keine Auskunft erteilen. Hannemann selbst spricht inzwischen von Mobbing. "Den Job bin ich los, das weiß ich", sagt sie.

Doch so einfach ist das offensichtlich nicht. Hannemann sanktioniert zwar nicht, sie suche aber permanent das persönliche Gespräch, telefoniert hinterher, trifft sich auch zum Kaffee, sagt sie. "Ich muss dann gar nicht sanktionieren." Und sie weiß genau, wo die Grenzlinien verlaufen, um ihr arbeitsrechtliche Vorwürfe zu machen: Die Interna, die sie verbreitet, sind nie zu konkret, Vorwürfe lässt sie juristisch checken. Und tatsächlich gibt es bei Sanktionen nach Auskunft des Jobcenters Team Hamburg für Arbeitsvermittler wie Hannemann zwar keinen eigentlichen Ermessensspielraum. Doch wenn es gute Begründungen für eine Absage gibt, müsse auch nicht sanktioniert werden. Hannemann sucht mit ihren Hausbesuchen die Begründungen praktisch selbst mit. "Ich arbeite eben anders als andere", sagt sie. Für Hannemann selbst geht es aber nicht um Kritik an Kollegen, es gehe ihr ums System, betont sie.

Aufgewachsen ist Inge Hannemann zunächst in Hamburg, mit zwölf zog sie mit den Eltern nach Süddeutschland. In Baden-Württemberg engagierte sie sich bei den Jusos, lernte Speditionskauffrau, studierte Journalismus und arbeitete bei Bildungsträgern und bald auch im Jobcenter Freiburg, während sie sich als Alleinerziehende um eine Tochter kümmert, die inzwischen in Frankreich studiert. 2006 zog sie zurück nach Hamburg, heiratete und startete vor zwei Jahren den ersten Blog.

Das Ziel sei dabei klar. "Es geht letztlich um die Abschaffung von Hartz IV", sagt Inge Hannemann ohne Zögern bei der Frage nach ihren Motiven. Stattdessen plädiert sie für ein bedingungsloses Einkommen für alle von 1000 Euro im Monat und sieht sich damit als Teil einer bundesweiten Bewegung. Wer das bezahlen soll? Ob man nicht eine soziale Hängematte für Faule schafft? Diese Fragen kenne sie zur Genüge. Unterm Strich koste das gar nicht so viel, wenn der ganze "unwürdige" Vermittlungs- und Maßnahmenaufwand einfach aufgegeben werde, argumentiert sie. Schon so würde der Staat für einen alleinstehenden Hartz-IV-Empfänger durchschnittlich etwas mehr als 800 Euro aufwenden. Dabei sei heute die Vermittlungsrate in dauerhafte, feste Jobs äußerst gering, sie liege in Altona lediglich bei 1,7 Prozent, sagt Hannemann.

Und wirklich faule, Arbeitsunwillige gebe es aber nur sehr wenige. "Drei von hundert vielleicht", glaubt sie. Eine Quote, die es auch unter den Erwerbstätigen in großen Firmen und Behörden gebe. "Die wurden schon immer mit durchgeschleppt", sagt sie. Dann klingelt wieder das Telefon. Eine Interviewanfrage. Aus Berlin.